Leseprobe zu "Unter sternbedecktem Himmel"
Hier findest du meine Leseprobe zum ersten Band meiner Grünwunderlandreihe. Genau gesagt, geht es hier um das gesamte 2. Kapitel. Bei Amazon in der Leseprobe, kannst du das gesamte erste Kapitel lesen. Außerdem trage ich auf dieser Seite noch alle weiteren Infos (Lesungen, Inhaltsangaben, Charakterbeschreibungen…) zusammen, die sich im Laufe der Zeit zum Roman ergeben.
Aktuell ist der Roman nur als Ebook erhältlich.

Kapitel 2
Drei Tage lang hatte ich mich nun gefragt, warum wir die Decke im Wohnzimmer noch nicht neu gestrichen hatten. Wieso die Couch nicht am Fenster stand, und warum im Wohnzimmer hinter der Couch Esszimmermöbel standen, obwohl doch das Esszimmer mit ausreichend Mobiliar ausgestattet war, dass der halbe Ort dort dinieren konnte. Ich hatte die sauber gestutzten englischen Rosen in Papas Ziergarten vor dem Wohnzimmerfenster gezählt, circa sechs verschiedene Wespensorten am Fenster entdeckt und war inzwischen mit den Hummeln per du. Ilona und die anderen drei Ponys waren einmal ausgebüxt und hatten mich am Fenster besucht. Sie machten sich begeistert über Papas Ramblerrose „Pauls Himalayan Musk Rambler“ her, ehe er schimpfend aus dem Arbeitszimmer kam und die Ponys zurück auf die Weide brachte. Danach widmete er sich wieder den Hausaufgaben seiner Schüler und überließ mich meiner Langeweile. Die Tage waren unheimlich lang und auch Olympia und unsere fünfzehn Hofkatzen konnten sie mir nicht verkürzen. Erst gestern Abend brachte Oma einen Lichtschimmer in mein Leben, indem sie mir heimlich meinen Laptop aus meiner Wohnung holte. Ich versteckte ihn unter dem Sofakissen, auf dem ich mich „erholte“.
Doch zum Glück war heute ein wunderbarer Tag, denn nach einem kurzen Besuch in der Arztpraxis ließ Mimi mich beim Bistro-Café „Zuckerperle“ raus, ehe sie zum Supermarkt und in den Futterhandel weiterfuhr.
Man war in der Arztpraxis zufrieden mit mir, ich hatte mir täglich eine Thrombosespritze verabreicht und den Fuß genügend Kühlakkus und -pads ausgesetzt. Die Schwellung ging zurück.
Guter Dinge humpelte ich auf meinen Krücken auf den Eingang der Zuckerperle zu.
Die Tür stand weit offen und der Duft nach frisch gebackenen Vanillecupcakes und Kaffee Latte strömte hinaus. So elegant es mir möglich war, hinkte ich über die Schwelle und sah mich nach einem freien Platz um. Mein Eintreten löste den Bewegungsmelder aus und ein leises Klingeln ertönte in der Küche.

„Komme gleich“, rief Wiebke.
Wie bei jedem Besuch hatte ich das Gefühl, der helle Raum, mit seinen Bücherregalen, Teelicht- und Kerzenhaltern, blitzenden Wanddekorationen, großen Topfpflanzen, an die Wand gepinnten Ranken, deren Wurzeln in fernen Töpfen weilten und allerlei anderem Nippes zog mich mitsamt seinen weichen Polstermöbeln, den antiken Tischen und den wohligen Düften in einer festen Umarmung tief in sich hinein. Ich steuerte auf meine Lieblingsbiedermeiercouch, neben dem ansehnlichen Ficus und hinter dem Klavier am Fenster zu. Die grauweißen Streifen der Couch verloren sich unter dutzenden Blümchenkissen.
Ich lehnte die Krücken gegen einen der Stühle, die zu meiner Sitzgruppe gehörten, und platzierte meinen Hintern betont vorsichtig auf der Couch. Mein ganzer Körper entspannte sich nach der Tortur in der Praxis. Still fragte ich mich, wann ich endlich wieder vernünftig laufen können würde. Es war schon schlimm genug, dass mir soeben eröffnet worden war, dass die Freibad-Saison sich für dieses Jahr für mich erledigt hatte. Ich hatte mich schon einmal so nutzlos, überflüssig und gleichzeitig so eingesperrt gefühlt. Tatsächlich war ich das damals auch, allerdings nicht körperlich, sondern ich hing in einer toxischen Beziehung fest. Jetzt mit diesem Zustand klar zu kommen und nicht in mein altes Gedankenkarussell abzudriften, war gestern tatsächlich zu einer Herausforderung geworden.
Doch jetzt hatte ich meinen Laptop wieder. Ausgeruht, wie ich war, holte ich einen Teil der Arbeit der letzten drei Tage über Nacht auf. Wenn ich heute noch drei Artikel, fünf Social-Media-Beiträge und zweitausendachthundert Wörter in mein Traumprojekt tippte, wäre ich endlich wieder auf aktuellem Stand.
„Lisa! Du bist es!“ Wiebke trocknete sich die Hände an der dunklen Schürze, während sie auf dem Weg zu mir war. Als sie mich erreichte, drückte sie mich an ihre nach Mehl und Kaffee duftende Brust. „Was für ein Idiot, der dir das angetan hat! Habt ihr schon etwas von der Polizei gehört?“
Ich schüttelte den Kopf und war mir ziemlich sicher, dass sie die Frage nur des Smalltalks wegen stellte. Malu wird sie in Echtzeit auf dem Laufenden halten. „Ich komme gerade vom Arzt. Mir wurde gesagt, ich kann dieses Jahr nicht mehr schwimmen gehen.“
„Ach Herzchen.“ Wiebke drückte mich erneut an ihre Brust. Meine Augen füllten sich tatsächlich mit Tränen, obwohl ich mir vorgenommen hatte, tapfer zu bleiben. Aber Wiebke und Malu wussten, wie viel es mir bedeutete, über die Sommermonate täglich im Wasser zu sein. Ihre Anteilnahme war nicht gespielt. „Das ist nicht schlimm. Wir haben August, das Jahr ist schon fast vorbei. Eh du es dich versiehst, ist alles wieder verheilt. Glaub mir.“
Ich wischte mir über die Augen und nickte.
„Schoko-Cappuccino?“, fragte sie.
„Sehr gerne.“
„Vanille-Cupcake mit Frosting aus weißer Schokolade und den letzten frischen Erdbeeren der Saison?“
„Und Erdbeersoße?“, fragte ich vorsichtig.
„Mach ich dir. Aber erst legen wir das Bein hoch.“ Wiebke schob den Tisch beiseite und hob ganz behutsam mein verletztes Bein auf die Couch. Sie steckte zwei Blümchenkissen darunter, damit es etwas erhöht lag. Meine linke Star-Wars-Socke leuchtete mir fröhlich entgegen. „Noch ein Kühlpad?“
Ich schüttelte den Kopf, weil ich schon das Gefühl hatte, mein Knöchel würde bald nicht nur unter dem Bänderriss, sondern auch noch unter Gefrierbrand leiden.
Sie verschwand wieder in der Küche und ich packte umständlich meinen Laptop aus. Solange Mimi ihre Besorgungen erledigte, wollte ich hier bei Wiebke für den nächsten Auftrag recherchieren und einige Ideen für Beiträge des Social-Media-Auftritts der Zuckerperle sammeln. Mit meinen Ansätzen könnte Malu die Artikel dann selber anfertigen und ich könnte weiter aus der Betreuung für die Zuckerperle rutschen. Doch als ich Malus Stimme aus der Küche dringen hörte, klappte ich den Laptop wieder zu, ehe er hochfuhr.
„Hast du echt deine Arbeit mit hergebracht?“, rief sie mir vom Tresen aus zu. Sie machte sich an dem riesigen Monstrum von Kaffeemaschine zu schaffen.
„Meine Miete verdient sich nicht von selber“, erwiderte ich.
„Du bist krank. Sogar krankgeschrieben!“
Ich rollte mit den Augen. Kranksein war langweilig. „Erzähl es bitte nicht Papa oder Mimi.“
„Mache ich nicht. Ehrenwort.“
Wiebke brachte mir den Cupcake, der unter all den Erdbeeren kaum zu sehen war. Sie stellte noch eine Schüssel Marmorkekse auf den Tisch. „Die Kekse haben ein neues Rezept bekommen. Probiert mal und sagt mir, wie sie schmecken.“
Malu kam mit zwei Kaffeebechern und griff sich einen Keks, nachdem sie die Becher abgestellt hatte. Wenn die beiden so nebeneinanderstanden, war unschwer zu erkennen, dass es sich um Mutter und Tochter handelte, wenngleich Malu ihre Mutter um fast zwei Köpfe überragte. „Da fehlt noch ein Gegengewicht. Vielleicht ein bisschen mehr Salz?“
Ich biss ebenfalls in einen der Kekse. „Ich bin auch für eine Prise Salz.“ Dann quietschte ich begeistert. „Da sind kleine Schokostückchen im dunklen Teig!“ Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie ein Kunde eintrat.
„Im hellen Teig auch“, sagte Wiebke und zwinkerte mir zu. „Lasst es euch schmecken.“ Sie verschwand hinter dem Tresen, um sich des Kunden anzunehmen, und Malu fläzte sich in den Sessel mir gegenüber.
„Also, kein Schwimmen mehr dieses Jahr?“
Ich schüttelte traurig den Kopf. „Vermutlich brauche ich drei Monate, bevor ich überhaupt wieder anfangen kann, zu trainieren. Wenn alles gut geht.“
Malu warf mir einen mitleidigen Blick zu. „Ich schwöre hiermit feierlich, dass ich nicht einen Fuß zum Joggen auf den Waldweg setzen und niemals in diesem Halbjahr schwimmen gehen werde, weder im Freibad noch im See. Und ich gehe so lange mit Olympia Gassi.“
Mir entkam ein amüsiertes Lachen. Malu würde nicht einmal joggen gehen, wenn ihr Leben davon abhinge. Dennoch bedeutete mir diese Geste sehr viel, vor allem der Teil mit Olympia. Obwohl wir beide wussten, dass Olympia einen täglichen Spaziergang eigentlich nicht brauchte, da sie den ganzen Tag mit Mimi zusammen über den Hof streunte. Aber eine Runde durch den Wald war eine schöne Abwechslung für sie.
„Das ist lieb von dir.“ Ich nahm einen Schluck von dem Schoko-Cappuccino und gab mich der Ausschüttung des Serotonins hin. Anders würde ich vermutlich in den nächsten Wochen erst einmal nicht an das Glückshormon kommen.
„Hast du schon eine Überweisung für die Physiotherapie bekommen?“
„Welche Physiotherapie?“
„Bei so einer Verletzung brauchst du sicher Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen. Und die Heilung geht dann bestimmt auch schneller voran.“
„Davon haben sie nichts gesagt.“
„Ruf mal gleich da an.“ Malu griff nach meinem Handy und suchte die Nummer der Arztpraxis über das Internet heraus.
„Aber die Ärztin hätte doch etwas gesagt, wenn ich zur Physiotherapie sollte“, wandte ich ein.
„Ach, die vergessen doch in dem Trubel alles Mögliche.“ Sie reichte mir ruckartig das Handy. „Hier, es klingelt.“
Nach einem holprigen Gespräch versicherte man mir am anderen Ende der Leitung, dass mir die Physiotherapie zusteht. Ein entsprechendes Rezept stellten sie sogleich aus. Bei meinem nächsten Kontrolltermin könnte ich es mir abholen. Einen Termin bei der Physiotherapie sollte ich ruhig schon vereinbaren.
„Das ist doch wunderbar! Ab wann geht es los?“
„Ich kann schon übermorgen mit den ersten Übungen anfangen“, sagte ich und spürte ein leichtes Glühen in meiner Brust. „Vielleicht hast du recht!“
Malu stieß mit ihrem Kaffeebecher an meinem an. „Darauf trinke ich!“
Ich lehnte mich zurück und trank ebenfalls einen großen Schluck Cappuccino, während mein Blick aus dem Fenster auf das kleine Gärtchen aus Clematis, Iris und Lilien glitt. Einige weiße Bistromöbel waren dort in Grüppchen arrangiert.
Malu machte große Augen und starrte Richtung Tresen. Sie schluckte ihren Kaffee hinunter. „Ist er das nicht?“
„Wen meinst du?“, fragte ich und versuchte, mich umzudrehen, konnte jedoch an dem Ficus neben der Couch nicht vorbeigucken.
„Der Typ, der dich so aufdringlich retten wollte.“ Sie stellte ihren Becher ab und war schon im Begriff aufzustehen.
„Eduard?“, half ich ihr mit dem Namen, griff jedoch dann nach Malus Arm. „Nein.“ Ich schüttelte den Kopf.
Doch Malu wischte meine Hand einfach weg.
„Nun hab dich nicht so. Die Polizei braucht doch seine Aussage.“ Und schon war sie am Tresen.
„Hey, Ede“, rief sie und verschwand aus meinem Blickfeld. „Dein Name war doch Ede oder?“
„Eduard“, drang die Antwort vom Tresen am Ficus vorbei zu mir.
„Du bist doch der dunkle Unbekannte, der mich vor drei Tagen an den Unfallort zu meiner Freundin gerufen hatte, nicht wahr?“
„Der bin ich“, bestätigte er. „Geht es deiner Freundin gut?“ Mein verräterisches Herz klopfte wild bei seinen Worten.
„Frag sie doch selber, sie sitzt da vorne am Fenster. Du könntest ihr auch einen Gefallen tun. Kann ich dich noch zu einem Kaffee bei uns im Haus überreden? Karamell Macchiato?“
„Klingt gut. Einen Kleinen, bitte.“
Ich hörte Schritte, die sich zögerlich näherten, dann guckte Eduards Kopf unter einer Schirmmütze am Ficus vorbei, in einer Hand trug er eine Sonnenbrille, in der anderen eine Bestellung zum Mitnehmen. „Hi.“ Er winkte lässig mit der Brille und kam um den Kübel mit der stattlichen Pflanze herum. „Kann ich mich setzen?“
Ich nickte und beugte mich vor, um ihm die Hand zu reichen. „Danke für die Hilfe im Wald,“ sagte ich und fühlte mich dabei verlegen. Ich hätte mich schon viel früher bei ihm bedanken sollen, aber ich wusste ja nicht, wer er war. Und überhaupt vertrat ich immer noch die Meinung, dass ich allein an mein Handy herangekommen wäre, wenn Olympia sich nicht wegen ihm derart hätte aufregen müssen.

Er ergriff sie. Sein Händedruck war warm und kräftig. „Keine Ursache, wie geht es dir? Joggen wirst du jetzt erst mal nicht mehr oder?“
Ich schüttelte betrübt den Kopf. „Es ist ein mehrfacher Bänderriss. Aber ich kann zum Glück diese Woche mit der Physiotherapie anfangen. Sport darf ich erst nach der Heilung wieder treiben.“
„Das tut mir leid.“ Offenbar sah ich angemessen niedergeschlagen aus, denn er zog ebenfalls die Mundwinkel nach unten. „Wie heißt du noch mal?“
„Lisa“, antwortete ich.
„Du kommst nicht von hier oder?“ Malu stellte einen kleinen Becher Karamell-Macchiato vor ihm ab.
Eduard lehnte sich zurück. „Ich bin aus Hamburg und gönne mir gerade einen Tapetenwechsel auf dem Hof von Freunden.“
„Das erklärt den mysteriösen Hauch, der dich umgibt,“ sagte Malu und ihr war unschwer anzusehen, dass sie das Interesse an dem Gespräch mit ihm verlor.
„Was bekommst du für den Kaffee?“, fragte er sie.
„Nichts. Helden bekommen bei uns einen Kaffee gratis.“
Er lächelte. „Ich habe dich nur angerufen. Und ich bin sicher, Lisa wäre auch selber klargekommen.“
Ich nickte unauffällig und freute mich darüber, dass er ebenso dachte.
„Du hast sie ins Auto getragen, was sehr heldenhaft ausgesehen und uns jede Menge Zeit gespart hat.“
„Ich kann dir einen Gefallen tun?“, fragte er mich direkt, um das Thema zu wechseln, das ihm ganz offensichtlich unangenehm war.
„Die Polizei könnte deinen Augenzeugenbericht gebrauchen, wenn du gesehen hast, was passiert ist.“
„Habe ich. Es war ein silberner Mercedes Combi mit dunkel getönten Scheiben. Das Kennzeichen konnte ich nicht genau erkennen, aber es war aus der Gegend.“
„Oh. Tatsächlich?“, fragte ich überrascht. „So gut hast du den Wagen gesehen?“
„Ich habe ihn zwangsweise angeleuchtet, als ich an ihm vorbeilaufen musste. Er stand zuvor einen Kilometer weiter im Wald.“
„Ach so. Dann ist er an dir auch vorbeigefahren?“
„Ja, aber viel langsamer.“
„Würdest du das auch der Polizei mitteilen?“
„Natürlich. Geht das online?“, fragte er.
„In diesem Fall leider nicht. Du müsstest dann zur Polizeistation in Christinenau. Wir haben in Grünwunderland keine eigene Wache.“
„Mache ich.“ Er trank einen weiteren großen Schluck aus seinem Becher.
Malu stand auf. „Ich helfe mal eben am Tresen.“
Ich sah ihr nach und erkannte, dass sich eine Schlange gebildet hatte.
Er zog sein Handy aus der Hosentasche. „Wie ist dein ganzer Name?“
Überrascht sah ich ihn an. „Wieso willst du das wissen?“
Er lächelte. „Wegen der Aussage bei der Polizei. Sie können meinen Bericht sicher schneller zuordnen, wenn ich deinen Namen darauf schreiben kann.“
„Elisabeth Persephone Schilling“, sagte ich leise aber deutlich und konnte wie immer nicht verhindern, dass ich rot wurde. Mein Papa musste sich ausgerechnet bei meinem zweiten Vornamen durchsetzen.
Aber Eduard ließ sich nichts anmerken und notierte ihn einfach. „Persephone mit Ph nehme ich an?“
Ich nickte.
Er schob sein Handy zurück in die Hosentasche und lehnte sich mit dem Becher in der Hand zurück. „Hat dein Hund sich wieder beruhigt?“
„Natürlich, du warst ja dann weg. Eigentlich ist sie sehr umgänglich.“
Er nickte. „Die Misshandlung durch Männer, ich erinnere mich. Sie war ein Tierheimhund.“
„Meine Tante hat einen Gnadenhof. Sie hat sie aus einem Tierheim geholt, das Olympia nicht vermitteln konnte.“
Er trank den nächsten Schluck aus seinem Becher. „Der Hof, an dem man vorbeikommt, wenn man die große Runde durch den Wald läuft?“
„Ja.“ Und mit diesem kurzen Wort hatte ich das Gefühl, es sei nun alles Wichtige zwischen uns gesagt, denn mir fiel nichts mehr ein. Was ein Teil von mir irgendwie schade fand, denn dieser Teil fühlte sich entgegen jeglicher Vernunft zu diesem Menschen mir gegenüber hingezogen.
Bestimmt lag es daran, dass er mir geholfen hatte.
„Wird das Klavier hinter dir eigentlich auch benutzt? Oder steht es nur zur Deko hier?“, fragte Eduard.
Stellte er die Frage, weil er sich auch noch länger mit mir unterhalten wollte? Oder lag es daran, dass sein Kaffee noch nicht ausgetrunken war? Und warum stellte ich mir all diese Fragen? Er war ein Niemand für mich. Ich brauchte lediglich seine Aussage.
„Malu hat ein kleines Ensemble mit zwei ehemaligen Schulfreundinnen von uns gegründet. In unregelmäßigen Abständen geben sie hier ein Konzert. Meist in Kombination mit etwas Leckerem zu Essen. Nur im Dezember nicht, denn da spielen sie immer in der Feldsteinkirche von Christinenau.“
„Du gehörst nicht zu dem Ensemble?“
„Glaub mir, niemand möchte hören, wie ich eine Klarinette quäle.“
„Was sind denn deine Vorlieben, außer Sport?“
„Sage ich dir, wenn du mir deine nennst.“
Er lächelte, stand auf und reichte mir die Hand. „Leider muss ich los. Danke für den vorzüglichen Kaffee. Meine Freundin wartet auf mich.“
Ich drückte seine Hand noch einmal und seufzte still.
„Mach´s gut“, sagte er und verließ den Laden.
Ich blickte ihm eine Weile nach, ehe er hinter Millas Blumenladen an der Kreuzung gegenüber um die Ecke bog. Verärgert stellte ich fest, dass ich den Klang seiner Stimme vermisste.
Malu kehrte zurück, nachdem sich die Schlange an der Theke wieder aufgelöst hatte. Ich hatte derweil meinen Laptop hochgefahren und mit meiner Recherche begonnen.
„Nanu? Ist er schon weg?“
„Er musste los zu seiner Freundin.“
„Ach, er hat eine Freundin?“, fragte Malu deprimiert.
„Du bist mit meinem Bruder zusammen, wenn ich dich daran erinnern darf.“
„Aber du nicht. Du bist allein, hast niemanden.“
„Pfft. Ich bin doch nicht allein.“
„Doch. Du in deiner riesigen loftartigen Stalldachboden-Wohnung, mit deinen Büchern, deinem Laptop und deiner Kopfarbeit wirkst, finde ich, irgendwie schon einsam. Es sollte noch etwas anderes in deinem Leben sein, als nur deine Arbeit, deine Bücher, der Sport und die Tiere deiner Tante.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich brauche nichts anderes.“
Sie sah mich mitleidig an.
„Bitte lass uns nicht über Chris reden.“
Sie presste die Lippen zusammen und wir blickten gleichzeitig stumm aus dem Fenster.
Wie der Zufall es so wollte, trieb das Schicksal Christian in eben diesem Moment gegenüber auf der anderen Straßenseite zur großen Kreuzung hinunter. Das enge graue Shirt, das er trug, betonte seine sonnengebräunten, definierten Oberarme und seinen muskulösen Körper. Sein Bart und seine Frisur sahen noch genauso aus wie vor zwei Jahren, als er sie meinen Vorlieben entsprechend stylte. Ich spürte die Erinnerung an seine festen Umarmungen beinahe körperlich.
Malu seufzte genervt. „Treibt der Idiot sich auch wieder hier herum?“
Als hätte er sie gehört, drehte er sich zur Zuckerperle um. Unsere Blicke trafen sich. Das kalte Blau seiner Augen schlug mir entgegen. Ich wandte mich ab und starrte auf die Website, die ich zu Recherchezwecken aufgerufen hatte. „Wachsende Singvogeldichte, in schleswig-holsteinischen Naturschutzgebieten.“
***

Am Abend hielt ich es nicht mehr aus. Nachdem ich meine Haare in einem messy Bun einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, schlüpfte ich mit dem gesunden Fuß in den rechten ausgetretenen Sneaker und humpelte längs durch die Diele nach hinten. Ich passierte unbemerkt die Durchgangstür zum Stall. Sehnsuchtsvoll blickte ich die Treppe zum Dachboden hinauf. Aber nach oben, in meine Wohnung, würde ich wohl erst wieder in ein paar Wochen kommen. Mimi war vorgestern hochgegangen, um die Vorräte dort oben zu sichten, und hatte alles Verderbliche nach unten in die Küche geholt.
Mit viel Mühe durchquerte ich den Stall und erreichte schnaufend die Hintertür. Ächzend schob ich mich in den Garten. Sofort war Olympia an meiner Seite und legte mir ihren Ball vor die Füße. Mit der Krücke kickte ich ihn fort. Während sie hinterher hüpfte, verschnaufte ich an der Mauer und beruhigte meinen Atem. Dann ging es weiter. So hangelte ich mich Meter für Meter über den Hof. Alsbald begleitete mich der meckernde Rufus mit seinen Gänsen und hin und wieder gesellte sich eine unserer Katzen hinzu. Wir wanderten gemeinsam die Auffahrt hinauf, an Papas Margeritenmeer vorbei zur Ponywiese, auf der Ilona uns mit einem fröhlichen Wiehern entgegen trabte und kamen nach einer halben Ewigkeit zum oberen Stall, in dem Mimi das Futter aufbewahrte. Dann ging es nach hinten in Papas Bauerngarten, der in Stockrosen, Kapuzinerkresse und Sonnenblumen ertrank. Zwischendurch kickte ich für Olympia den Ball weg, bis meine kleine Gemeinschaft wieder am Stall angekommen war.
Mir brannten von diesem überschaubaren Ausflug die Arme und ich war so müde, dass mir die Augen ständig zuklappten. Aber ich kämpfte mich zurück durch die Hintertür, den Stallgang hinauf und in die Diele. Olympia blieb mir auf den Fersen.Als ich mich erschöpft gegen die geschlossene Stalltür lehnte, spitzte sie die Ohren und wandte sich der offenen Eingangshalle zu. Der Ball fiel aus ihrem Mund. Er hopste ein paar Mal leise über den Boden. Ein dezentes Grollen entwich Olympias Kehle.
„Pscht“, sagte ich und sie blieb still, sah mich aber nicht an.
„Sollten deine Bauarbeiter sich nicht an meine Pläne halten, wirst du von meinem Anwalt hören.“ Oma Sannes Stimme klang gewohnt sachlich aus dem Esszimmer.
„Du tust ja gerade so, als würde ich das Haus verunstalten wollen.“
„Lene du willst einen Pool in die alte Küche bauen! Dafür müsstest du sie erweitern und die Wand zur Vorratskammer einreißen. Aber das ist eine tragende Wand!“
„Der Bauleiter hat gesagt, dass das gar kein Problem wäre“, ertönte Arthurs Stimme.
Ich rollte innerlich mit den Augen. Jetzt war der Partner meiner Mutter auch noch hier.
„Der Bauleiter hat Stroh im Kopf“, erwiderte Oma. „Die Vorratskammer bleibt so, wie sie ist. Alles bleibt so, wie es ist. Ihr könnt alle Räume renovieren. Aber es werden keine Wände eingerissen, keine Stockwerke zusammengezogen oder neue Fenster- oder Türöffnungen gebaut. Auch jedweder andere Irrsinn findet in diesem Haus nicht statt.“
„Irrsinn? Wir betreiben doch hier keinen Irrsinn, Sanne.“
„Das Haus steht unter Denkmalschutz, lieber Arthur.“
„Denkmalschutz – das ich nicht lache. Den kann man irgendwie umgehen.“
„Es ist mein Haus und ihr haltet euch an das, was ich gesagt habe.“
„Du hältst den Fortschritt auf!“, entgegnete Arthur. Ich konnte mir Mamas Partner genau vorstellen: Grauer gestutzter Bart, weißes Polohemd, teure dunkle Jeans, braungebrannt, goldener Ring am Finger.
„Hast du uns deswegen diesen Streuner auf das Grundstück geschickt?“, fragte Mama.
„Du meinst den Sachverständigen,“ korrigierte Oma sie.
„Ein Sachverständiger soll diese Witzfigur sein?“ Mama lachte laut.
Mich nervte diese Unterhaltung. Ich hasste es, wenn Oma, Mimi und Papa sich mit Mama und ihrem Partner stritten. Es passierte immer nur meinetwegen. Weil ich damals bei Papa geblieben war. Meine Mutter verzieh mir das nicht und ließ alle darunter leiden.
Ich stieß mit der Krücke die Tür zum Esszimmer auf. Die knurrende Olympia blieb an meiner Seite. „´N Abend!“, rief ich in den Raum. „Gibt es was zu essen?“
„Lisa!“ Mama stand auf und kam auf mich zu. Sie presste mich an sich, ehe ich ihr ausweichen konnte.
„Was soll denn das?“ Ich schob sie mit einem Arm wieder von mir fort.
Papa starrte an die Zimmerdecke.
Mimi schüttelte den Kopf, als sie meinen Blick kurz auffing. Sie wollte vermutlich nicht, dass diese Situation noch weiter eskalierte.
Schmerz blitzte für den Bruchteil einer Sekunde in Mamas Augen auf. Sie konnte wirklich nicht verstehen, dass ich ihr fremd gehen von damals nicht verzieh.
Sie hatte es nur getan, weil mein Vater so langweilig gewesen sei. Ich konnte nicht glauben, dass sie so von ihm dachte! Ja, gut, er war Deutschlehrer und liebte es, tote Dichter zu rezitieren. Aber er war mein Papa! „Hör bitte auf, hierher zu kommen und dich mit allen zu streiten,“ schnauzte ich sie an.
Sie wich einen Schritt zurück und musterte mich mit dem gewohnten kalten Blick, den sie mir angedeihen ließ, seit ich es verschmäht hatte, mit ihr und Arthur nach Berlin oder gar auf die Kanaren zu ziehen. Nora sah sie nie so an.
„Am neunzehnten Juli feiern wir im alten Wintergarten deinen und Noras Geburtstag.“ Sie wandte den Blick von mir ab und ließ ihn über die Anwesenden schweifen, so entging ihr, dass ich innerlich so wie äußerlich bei diesen Worten zusammensackte. „Ihr seid alle herzlich eingeladen. Es ist Noras ausdrücklicher Wunsch. Schließlich hat sie euch alle schon lange nicht mehr gesehen. Ben und seine Freundin Malu sind auch eingeladen, wenn er bis dahin von der Uni zurück ist.“
Olympias Knurren wurde lauter, doch niemand beachtete sie. Ich wandte mich ab und humpelte hinüber ins Wohnzimmer. Olympia folgte mir zögerlich. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob in diesem Moment ich oder die anderen drei ihre mentale Unterstützung benötigten.
Schlussendlich folgte sie mir hinein und ich zog die Tür zu. Vorsichtig ließ ich mich auf das Sofa sinken und spürte sofort das schweißnasse T-Shirt in meinem Rücken kleben, neben der Erleichterung den Fuß endlich hochzuheben.
Durch die Tür vernahm ich dumpf, dass sie sich noch eine Weile unterhielten. Worüber konnte ich jedoch nicht verstehen.
Dann öffnete sich die Wohnzimmertür und Mama trat ein. Mir gefiel das geblümte Kleid, das sie trug. Es wirkte nicht so überteuert, wie die Stücke, die sie sonst bevorzugte. Ein Gürtel hielt es perfekt auf der Taille. Olympia knurrte sogleich bei ihrem Anblick.
„Nun bring dem Hund doch mal bei, nicht ständig jedermann anzuknurren.“ Sie setzte sich trotz Olympias Drohgebärden neben mich auf das Sofa und legte mir zu aller Überraschung ein Kühlpad auf die Verletzung.
„Wie geht es dir?“
Ich seufzte genervt. „Nicht mehr so schlimm wie vor drei Tagen.“
Sie überhörte und übersah meine angesäuerte Laune. „Gibt es Neuigkeiten von der Polizei?“, fragte sie mich weiter aus.
„Nein.“
„Bekommst du alle Therapiemaßnahmen?“
Ich nickte. „Übermorgen ist meine erste Physiotherapiebehandlung.“
„Mach vorsichtig und nicht so schnell.“
„Ja,“ sagte ich und dehnte das Wort bedeutungsschwer.
„Nimm das ernst. Bei einem Bänderriss kommt es schnell zu Langzeitschäden.“
„Ich weiß. Die Ärztin hat mich aufgeklärt.“
„Gut.“
Sie strich mir über die heiße Wange.
„Ich habe dich sehr doll vermisst, meine Kleine.“
Sie konnte lange warten, bis ich darauf antwortete. Natürlich beruhte diese Tatsache auf Gegenseitigkeit. Aber sie hatte den Schaden angerichtet. Es war ihre Entscheidung gewesen! Sie musste unbedingt kilometerweit, von allem wegziehen, was mir wichtig war!
„Ich erwarte dich auf der Feier. Als Wiedergutmachung für all die Geburtstage, an denen ich nicht teilhaben konnte.“
„Du hattest doch Nora.“
„Ich hätte euch beide haben sollen.“
„Das gilt auch für Papa.“
„Lass uns nicht damit anfangen.“ Eine Strähne rutschte aus ihrer Hochsteckfrisur. „Wir sehen uns spätestens an deinem Geburtstag. Ich würde mich sehr freuen, wenn du auch vorher mal vorbeikommen würdest.“
Ich antwortete nicht.
„Arbeite nicht so viel. Arthur kann dir den Ausfall zahlen.“
„Mhm.“ Niemals würde ich mir von ihm Geld geben lassen und schon gar nicht für gar nichts.
„Und melde dich bei mir, wenn du mich brauchst. Verstanden?“
„Verstanden.“
„Gut.“ Sie küsste mich auf die Stirn und erhob sich.
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